Mehr Augenhöhe statt Abschottung

Bereits im Römischen Reich suchten die Regierenden nach Wegen, um die Herausforderung von enormer Zuwanderung zu stemmen. Nun werden diese Maßnahmen im Rahmen eines Forschungsprojekts erstmals aus rechtlicher Perspektive betrachtet. Dies soll Aufschluss über Fragen von Bürgerrecht bis zu gelungenen oder gescheiterten Integrationsmaßnahmen geben, auch um auf EU-Ebene daraus lernen zu können.

Während der Plünderung Roms 410 n. Chr. durch die Westgoten werden liturgische Gefäße in einer Kirche in Sicherheit gebracht.
Während der Plünderung Roms 410 n. Chr. durch die Westgoten werden liturgische Gefäße in einer Kirche in Sicherheit gebracht. Es war der Beginn des Niedergangs der römischen Macht und großer Wanderbewegungen. Quelle: Wikimedia

Blickt man auf das Römische Reich zurück, würde man erwarten, dass die Mehrheitsbevölkerung auch römische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger waren. Bis zum Jahr 212 n. Chr. war dies aber überraschenderweise nicht der Fall. „Nur rund zwanzig bis dreißig Prozent der Bevölkerung galten als Vollbürger, das bedeutet als Staatsbürger des großen ‚Imperium Romanum‘. Alle anderen waren ‚nur‘ Bürger einer Stadt des Römischen Reichs, wie etwa Athen oder Alexandria. Die regionale und lokale Autonomie wurde während der römischen Kaiserzeit anerkannt und gefördert“, erklärt Johannes Michael Rainer, Rechtswissenschaftler mit Fokus auf Römisches Recht und modernes Privatrecht an der Universität Salzburg.

Zusätzlich zum römischen Staatsbürgerrecht gab es noch die Zugehörigkeit zu einer Provinz, was rechtlich jedoch weniger bedeutsam war als die Bürgerrechte der Stadt, in der man lebte. Letztere waren mit wichtigen politischen Rechten verknüpft. Erhielt in speziellen Fällen etwa ein Mitglied der Athener Oberschicht zur städtischen Staatsbürgerschaft noch die römische verliehen, gingen die Rechte als Athener nicht verloren. „Wir sind in einem Forschungsprojekt nun dabei, diese Mehrfach-Bürgerschaft zu erforschen. Spannend ist, dass im Jahr 212 n. Chr. per Gesetz alle Bewohner des Römischen Reichs ohne Vorbedingung die römische Staatsbürgerschaft erhielten. Sie blieben zwar Bürger ihrer Stadt, dieser Status wurde nun aber zunehmend unwichtig“, sagt der Forscher.

Das Recht im Fokus 

In dem interdisziplinären Forschungsprojekt, das der Wissenschaftsfonds FWF fördert, betrachtet Rainer erstmals das Phänomen enormer Zuwanderung aus rechtlicher Perspektive. Der europäische Kontinent war speziell im 4. Jahrhundert n. Chr., dem „Jahrhundert der Migration“, mit einer neuen, ungewohnten Quantität an Zuwanderung konfrontiert, die in die Millionen gegangen sein dürfte. Auf Basis historischer Quellen gehen Forschende sogar von einer ungleich höheren Migrationsquote als der heutigen aus. Damals wie heute stellte dies den Staat vor neue und umfassende Herausforderungen. Fragen der Bürgerrechte betrafen schließlich nicht nur die alteingesessene Bevölkerung, sondern auch Zugezogene.

Der Fokus auf die Rechte wirft etliche Fragen auf: Wie sah die Rechtssituation von Fremden gegenüber Römern aus? Welche Maßnahmen zum Umgang mit Migrantinnen und Migranten wurden gesetzt? Wo lagen die Stärken bzw. Schwächen des Systems? „Wir wollen die Modelle der Vergangenheit für die Gegenwart aufarbeiten und so zu Lösungen für aktuelle Herausforderungen in puncto Migration beitragen. Dazu arbeiten wir mit etlichen Hochschulen aus ganz Europa und auch den USA zusammen und kooperieren mit der EU-Kommission“, berichtet der Forscher.

Vor dem Gesetz sind Fremde und Römer gleich

Ein zentraler Auslöser für die Abwanderung ganzer Völker aus ihren Regionen nach Westen dürfte die Verschlechterung des Klimas gewesen sein. Eine massive Abkühlung hatte Missernten zur Folge und bedrohte die Lebensgrundlage vieler Menschen. „Ein wesentlicher Unterschied zwischen den antiken Migrationsströmen und der modernen Migration besteht darin, dass Männer nicht allein vorausgezogen sind, sondern zusammen mit ihren Frauen und Kindern. Daher spiegelten die Migrantengruppen das gesamte Spektrum der Bevölkerung wider“, erklärt Rainer. Der lateinische Rechtsbegriff ‚peregrinus‘ (Fremder) galt daher für Männer, deren Frauen und Kinder gleichermaßen. Welche Rechte diese Fremden im Römischen Reich haben sollten und wie das durchgesetzt werden könnte, beschäftigte die politischen Verantwortlichen schon lange.

„Spannend ist, dass schon in der römischen Republik, wahrscheinlich am Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr., eine eigene, unparteiische und unabhängige Gerichtsbarkeit für Fremde eingerichtet wurde. Der dieser Institution vorstehende ‚praetor peregrinus‘ oder Justizminister war nur für Fremde zuständig und hatte dafür zu sorgen, dass für sie im Privatrecht dieselben Rechte wie für römische Staatsbürger galten“, betont der Rechtswissenschaftler. Für die Praxis bedeutete das, dass etwa bei einem Rechtsstreit zwischen einem römischen und einem germanischen Händler in Rom beide gleichbehandelt werden mussten. Diese Gleichstellung galt für das Privatrecht, aber auch im Strafrecht gab es laut Rainer kaum Unterschiede.

Cover AiD 1/2021

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Mobilität und Handel sind wesentlich für Entwicklung und Fortschritt. Doch wie mobil war der Mensch der Vorzeit? Nirgends lässt sich das besser nachvollziehen als an den Alpen – bis heute eine gewaltige Barriere für den Verkehr. Welche Kontakte bestanden zwischen den Regionen diesseits und jenseits des Gebirges? Lässt sich erkennen, wer kam, um zu bleiben, und wer nach einer Weile wieder ging? Um diese Fragen zu beantworten, setzen die Autoren auf ein noch junges Verfahren: Isotopenanalsyen an Leichenbränden von der Spätbronzezeit bis in die Römische Kaiserzeit.

Mangelndes Know-how und zu viel Abschottung

Das Spektrum an Maßnahmen zur Bewältigung der massiven Zuwanderung im Römischen Reich war vielfältig und reichte von Abwehr und Abschottung bis zu Integration durch Ansiedlung in der Landwirtschaft und zur Aufnahme in die römische Armee. Die Überreste des Limes zeugen zudem noch heute von den enormen Ausmaßen der Grenzbefestigung. Um die Gesamtsituation, die politischen Voraussetzungen und die Maßnahmen besser verstehen zu können, setzen die Forschenden auf vielfältiges Quellenmaterial. Neben juristischen Quellen, wie etwa der Gesetzsammlung von Kaiser Justinian aus dem 6. Jahrhundert, werden auch literarische Quellen zeitgenössischer Intellektueller sowie politische Berichte analysiert.

Trotz der rechtlichen Gleichstellung gab es viele Probleme und offene Fragen im Umgang mit den zahlreichen Flüchtenden. „Die Verantwortlichen setzten von Anfang an viel zu stark auf Abschottung, statt mehr in sinnvolle Integrationsmaßnahmen zu investieren. Zu der mangelnden Erfahrung kam das jahrzehntelange Herumlavieren zwischen offenen und geschlossenen Grenzen hinzu“, fasst Rainer einige zentrale Gründe für das Scheitern einer erfolgreichen Integration zusammen. Das Hinausdrängen bereits integrierter Zuwanderinnen und Zuwanderer endete im Jahr 378 zudem in einem bewaffneten Konflikt, der den Römern eine Niederlage einbrachte und für den Forscher ein Beispiel für verfehlte Integrationspolitik darstellt.

Fremde kamen hoch hinaus

Anderes funktionierte hingegen gut. Die hohe soziale Durchlässigkeit, nicht nur im Militärdienst, stellt für den Forscher wiederum eine maßgebliche Stärke des Systems dar: „Als Fremder konnte man vergleichsweise rasch in die Oberschicht aufsteigen. Wir haben etwa Fälle aus dem 4. und 5. Jahrhundert n. Chr., wo es ein germanischstämmiger Migrant der zweiten Generation bis zum Ministerpräsidenten schaffte.“ Eine wesentliche Voraussetzung dafür war das Beherrschen der Amtssprache Latein. Aus heutiger Sicht war auch der freiwillige Übertritt zur römischen Staatsreligion, dem Christentum, für die Zugewanderten ein relevanter Schritt hin zur sozialen und Bildungsintegration.

Was den Staat insgesamt betrifft, können die gegenseitige Annäherung, die Flexibilität des Rechts und die Rücksicht auf Traditionen und Besonderheiten der Migrantinnen und Migranten ebenso zu den Pluspunkten gezählt werden. Spannend findet Rainer, welche neuen Modelle zur Integration von Fremden jene Völker entwickelten, die selbst von Eingewanderten abstammten und das Erbe der Römer antraten. Auf Basis des römischen Rechts wurde etwa die Verteilung von Grund und Boden neu geregelt oder die Steuern für die Großgrundbesitzer zur Finanzierung der Armee erhöht. Erst die interdisziplinäre Herangehensweise mit Fokus auf das Recht fördert Erkenntnisse zutage, ans Licht, aus denen nicht nur die Forschung, sondern auch das heutige Europa Lehren aus der Vergangenheit ziehen kann.

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Zur Person

Johannes Michael Rainer ist ordentlicher Professor für Römisches Recht und modernes Privatrecht an der Paris Lodron Universität Salzburg. Seine wissenschaftliche Laufbahn war von Beginn an interdisziplinär ausgerichtet. Er wirkte an mehreren Universitäten (Graz/München/Roma III) maßgeblich bei der Gestaltung des Erasmus-Programms mit und initiierte u. a. die Salzburger Summer School „Europäisches Privatrecht“. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u. a. Römisches Staatsrecht, Geschichte des Römischen Rechts bis heute und Europäisches Privatrecht.


Publikationen

Rainer, J. Michael: Das Römische Recht in Europa, Manz Verlag Wien, 2. Auflage, 2020

Rainer, J. Michael: Minima sur la citoyenneté romaine, in: J. Bouineau (Hg.): L’environnement méditerranéen. De l’Antiquité vécue à l’Antiquité réinventée, Paris 2019

Nach Pressemitteilung des Wissenschaftsfonds FWF