Studie zu genetischer Diversität in der Jungsteinzeit

Diversität
Freilegung der in der Studie untersuchten Skelette aus dem Galeriegrab von Niedertiefenbach. © Landesamt für Denkmalpflege Hessen, hessenARCHÄOLOGIE

Kennzeichen menschlichen Verhaltens: Diversität, Mobilität und Integration

Sonderforschungsbereich der Universität Kiel veröffentlicht Studie zu genetischer Diversität und dem Immunstatus der Menschen um 3200 vor Christus in Mitteleuropa

Unsere kulturelle und genetische Vielfalt sowie die Funktionen und Bedeutung unseres Immunsystems sind beständiger Gegenstand aktueller öffentlicher und wissenschaftlicher Diskurse. Mit der wichtigen Frage, wer wir Mitteleuropäer sind und woher wir stammen befassen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1266 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). Erst kürzlich veröffentlichten sie in der renommierten Fachzeitschrift Communications Biology neue Erkenntnisse ihrer Forschungen aus einer der wichtigsten Epochen der Menschheit, der Jungsteinzeit (5500-2200 v. Chr.), die zu Beginn durch den Übergang von einer jagenden und sammelnden Lebensweise zu Sesshaftigkeit, Pflanzenbau und Viehhaltung geprägt ist.

Interdisziplinäre Forschungen ermöglichen Rekonstruktion der Lebensumstände

Der Fokus der interdisziplinären Studie liegt auf der Paläogenetik, darüber hinaus waren ebenfalls Expertinnen und Experten der Anthropologie und Archäologie beteiligt. „Die Erforschung von demographischen Prozessen sowie der Gesundheit und Krankheit erfordert die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen“, erläutert Professor Ben Krause-Kyora, Leiter der Studie am Institut für Klinische Molekularbiologie (IKMB), und führt weiter aus: „Nur auf diese Weise ist es uns möglich, die verschiedenen Dimensionen der Lebensumstände der damals lebenden Menschen zu verstehen und zu rekonstruieren“. Eine zentrale Rolle innerhalb der Studie und der Forschungen des SFB 1266 nimmt die archäologische Fundstelle Niedertiefenbach (Hessen) ein, in der ein Galeriegrab aus der Jungsteinzeit erfasst wurde. „Niedertiefenbach ist ein Kollektivgrab, in dem um etwa 3200 v. Chr. mehr als 150 Menschen ihre letzte Ruhestätte fanden,“ erläutert Dr. Christoph Rinne, Archäologe im SFB 1266.

Genetische Diversität in der mitteleuropäischen Jungsteinzeit

Die genetischen Untersuchungen an Skelettresten von 42 Menschen aus dem Kollektivgrab führte zu überraschenden Ergebnissen. Sie geben Einblicke in die Bedeutung von demographischen Prozessen in der Jungsteinzeit und dienen der Beantwortung der Frage: In welchem Ausmaß wurde das genetische Erbe früher Jäger-Sammler-Gesellschaften Westeuropas und der ersten Bauern Südosteuropas an die späteren Bevölkerungen Mitteleuropas weitergegeben? Die im Niedertiefenbacher Grab bestattete Gruppe zeichnet sich durch eine hohe genetische Diversität aus, der die Vermischung von genomischen Komponenten der Jäger-Sammler und der Bauern zugrunde liegt. Der jeweilige Anteil dieser beiden Komponenten war individuell sehr unterschiedlich. „Zudem waren wir überrascht, dass das genetische Erbe der früheren Jäger-Sammler-Bevölkerungen größer war, als wir erwarten haben. Diese Menschen sicherten wahrscheinlich schon seit Jahrhunderten ihre Lebensgrundlage als Bauern, und bisher können wir diese Komponente in den mitteleuropäischen Bauern der vorausgegangenen 2000 Jahren nicht nachweisen“, erläutert Krause-Kyora.

Ein weiteres spannendes Ergebnis der genetischen Analysen ist, dass diese Vermischung um 3700 v. Chr. begann. Damit fällt sie zusammen mit der Entstehung der sogenannten Wartberg-Gesellschaft. Für diese kennzeichnend ist die Errichtung von Galeriegräbern mit kollektiver Bestattungsweise, wie jenes in Niedertiefenbach. Dies spricht für eine hohe Integrationsfähigkeit der menschlichen Gesellschaften, die sich in dieser Zeit in einer erneuten ökonomischen und technologischen Innovationsphase befunden haben.

Und ein weiteres Ergebnis überraschte die Expertinnen und Experten: Die im Kollektivgrab niedergelegten Personen stammen größtenteils nicht aus Kernfamilien, sondern wahrscheinlich von verschiedenen umliegenden Siedlungen oder Gehöften. Während Kollektivgräber – seien das die nordischen Großsteingräber oder die hessisch-westfälischen Galeriegräber – bisher zumeist als Familienbestattungen oder Bestattungen innerhalb der engeren Verwandtschaft betrachtet wurden, ist diese Studie der Hinweis darauf, dass damals nicht unbedingt engste Verwandtschaft, sondern die soziale und rituelle Zugehörigkeit für die Bildung solcher Bestattungsgemeinschaften ausschlaggebend waren.

Das genetische Erbe unseres Immunsystems

Ein Schwerpunkt der Studie lag auf der Erforschung des Immunsystems dieser jungsteinzeitlichen Menschen. Zahlreiche Indikatoren für Erkrankungen an ihren Skeletten zeigen, dass Entzündungen und körperliche Stressphasen recht verbreitet gewesen waren. Die aufwendige Analyse wichtiger Immungene in der sogenannten Humanen Leukozytenantigen (HLA)-Region fasst Professor Tobias Lenz vom Max-Planck-Institut zusammen: „Es hat den Anschein, dass die Immunantwort der Niedertiefenbacher gut auf die Erkennung und Bekämpfung von Virusinfektionen ausgerichtet war, anders als bei den heute in Mitteleuropa lebenden Menschen. Die Daten weisen darauf hin, dass dies möglicherweise auf das genetische Erbe der Jäger-Sammler Vorfahren zurückzuführen ist.“

Dieser Befund ist auch relevant für die gegenwärtige biomedizinische Forschung, da er aufzeigt, dass sich der moderne HLA-Genpool erst in den letzten 5000 Jahren entwickelt hat, also nach der Einführung der bäuerlichen Lebensweise und der damit wohl einhergehenden Entstehung und Verbreitung neuer Krankheitserreger. Die Forschenden fanden zudem heraus, dass bestimmte Varianten dieser Immungene, die die Niedertiefenbacher sehr häufig in sich getragen haben, heute Risikofaktoren für chronisch-entzündliche Erkrankungen darstellen, wie beispielsweise die Bechterew Krankheit.

„Mit dieser Studie wird deutlich: Diversität, Mobilität und Integration sind grundlegende, und jahrtausendalte Eigenschaften von menschlichen Gruppen und Bevölkerungen“, fasst Professor Johannes Müller, Sprecher des SFB 1266, zusammen und ergänzt: „Neben der urbanen und der industriellen Revolution ist die Jungsteinzeit mit der agrarischen Revolution eine der entscheidenden Menschheitsepochen, die unser heutiges Leben immer noch prägt – auch bezüglich Gesundheit und Krankheit.“

Das vom SFB 1266 durchgeführte Forschungsprojekt fand in Zusammenarbeit der CAU mit dem Landesamt für Denkmalpflege Hessen, hessenARCHÄOLOGIE, dem Max-Planck-Institut für Evolutionsforschung und dem Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte statt und wurde vom DFG-Exzellenzcluster Precision Medicine in Chronic Inflammation unterstützt. An der Forschungsgruppe waren zudem Mitglieder der Johanna Mestorf Akademie (JMA) und des Kiel Evolution Centers (KEC) beteiligt.

Nach Pressemitteilung der Universität Kiel