Die Evolutionsgeschichte unserer Mundbakterien

Forschende rekonstruieren die Mundbakterien von Neandertalern, Primaten und Menschen. Darunter das älteste jemals sequenzierte orale Mikrobiom eines 100.000 Jahre alten Neandertalers. Dabei entdeckten sie unerwartete Hinweise auf die menschliche Evolution und Gesundheit.

Evolution der Mundbakterien begann schon bei den Gorillas.
Präparate des Grauer-Gorillas im Königlichen Museum für Zentralafrika in Tervuren (Belgien). Sie zeigen typische Zahnsteinablagerungen an den Zähnen, die dunkel gefärbt sind, wahrscheinlich als Folge ihrer pflanzenfressenden Ernährung, CREDITS: Katerina Guschanski

In und auf unserem Körper leben Billionen von mikrobiellen Zellen, die zu Tausenden von Bakterienarten gehören – unser Mikrobiom. Diese Mikroben spielen eine Schlüsselrolle für die menschliche Gesundheit, aber es ist wenig über ihre Evolution bekannt. In einer neuen Studie untersucht ein multidisziplinäres internationales Forscherteam die Evolutionsgeschichte der Mundbakterien der Hominiden. Indem es den fossilen Zahnbelag von Menschen und Neandertalern aus den letzten 100.000 Jahren analysiert und mit dem von wilden Schimpansen, Gorillas und Brüllaffen vergleicht.

Forschende aus 41 Institutionen in 13 Ländern haben an der Studie mitgewirkt. Damit ist dies die bisher größte und ehrgeizigste Studie über das orale Mikrobiom von Menschen. Ihre Analyse des Zahnsteins von mehr als 120 Individuen, die Schlüsselpunkte in der Evolution von Primaten und Menschen repräsentieren, hat überraschende Erkenntnisse über das frühe menschliche Verhalten. Dadurch offenbarten sich neue Einblicke in die Evolution des hominiden Mikrobioms.

Das anspruchsvollste Puzzlespiel der Welt

Die Arbeit mit DNA, die zehn- oder hunderttausende von Jahren alt ist, ist eine große Herausforderung. Wie Archäologen, die zerbrochene Töpfe rekonstruieren, müssen auch Archäogenetiker die zerbrochenen Fragmente alter Genome mühsam zusammensetzen, um ein vollständiges Bild der Vergangenheit zu rekonstruieren. Für diese Studie mussten die Forscher neue Werkzeuge und rechnerische Ansätze entwickeln. Damit sie Milliarden von DNA-Fragmenten genetisch analysieren können, die in archäologischem Zahnstein konserviert sind. Nur so können sie längst verstorbenen Bakteriengemeinschaften identifizieren. Mit diesen neuen Werkzeugen rekonstruierten die Forscher das 100.000 Jahre alte orale Mikrobiom eines Neandertalers aus der Pešturina-Höhle in Serbien. Das mit mehr als 50.000 Jahren das älteste bisher erfolgreich rekonstruierte orale Mikrobiom ist.

„Wir konnten zeigen, dass bakterielle DNA der Mundbakterien mindestens doppelt so lange erhalten bleibt, wie bisher angenommen“, sagt James Fellows Yates. Er ist der Hauptautor und Doktorand am Max-Planck-Institut für die Erforschung der Menschheitsgeschichte. „Die in dieser Studie entwickelten Werkzeuge und Techniken eröffnen neue Möglichkeiten für die Beantwortung grundlegender Fragen in der mikrobiellen Archäologie. Dadurch wird eine breitere Erforschung der innigen Beziehung zwischen Menschen und ihrem Mikrobiom ermöglicht.“

Eine dauerhafte mikrobielle Gemeinschaft

In der fossilen Zahnplaque identifizierten die Forscher zehn Bakteriengruppen, die seit über 40 Millionen Jahren zu den Mundbakterien der Primaten gehören und die der Mensch und seine engsten Primatenverwandten immer noch gemeinsam haben. Von vielen dieser Bakterien ist bekannt, dass sie wichtige nützliche Funktionen im Mund haben und zur Förderung von gesundem Zahnfleisch und Zähnen beitragen können. Eine überraschende Anzahl dieser Bakterien ist jedoch so wenig erforscht, dass ihnen sogar Artnamen fehlen.

„Dass viele der wichtigsten Taxa nur unzureichend charakterisiert sind, ist eine Überraschung für orale Mikrobiologen, die sich seit Jahren mit diesen Wanzen beschäftigen“, sagt Floyd Dewhirst, Senior Member of Staff am Forsyth Institute und Mitautor der Studie. „Wir lernen immer noch neue Mitglieder dieser Gemeinschaft kennen. Jedoch geben uns diese Ergebnisse neue Arten, die wir für eine vollständige Charakterisierung ins Visier nehmen können.“

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Paläolithische Verbindungen

Obwohl Menschen viele orale Bakterien mit anderen Primaten teilen, sind die Mundbakterien von Menschen und Neandertalern besonders ähnlich. Dennoch gibt es ein paar kleine Unterschiede, meist auf der Ebene der Bakterienstämme. Als die Forscher diese Unterschiede genauer untersuchten, fanden sie heraus, dass die alten Menschen, die im eiszeitlichen Europa lebten, einige Bakterienstämme mit den Neandertalern teilten. Da das orale Mikrobiom typischerweise in der frühen Kindheit von Bezugspersonen erworben wird, könnte diese gemeinsame Nutzung frühere Mensch-Neandertaler-Paarungen und die Kindererziehung widerspiegeln. Darauf wies auch schon die Entdeckung von Neandertaler-DNA in alten und modernen menschlichen Genomen hin.

Forscher fanden heraus, dass Neandertaler-ähnliche Bakterienstämme bei Menschen nach ca. 14.000 Jahren nicht mehr gefunden wurden. 14.000 Jahren gefunden wurden, einem Zeitraum, in dem es in Europa am Ende der letzten Eiszeit eine erhebliche Bevölkerungsfluktuation gab.

„Orale Bakterien bieten eine unerwartete Möglichkeit, die Interaktionen von Menschen und Neandertalern vor Zehntausenden von Jahren zu rekonstruieren“, sagt Irina Velsko. Sie ist Postdoktorandin am MPI-SHH und Mitautorin der Studie. „Die Überschneidung von menschlicher und mikrobieller Evolutionsbiologie ist faszinierend.“

Eine frühe Liebe zur Stärke

Eine der größten Überraschungen war die Entdeckung, dass eine Untergruppe von Streptococcus-Bakterien. Diese kommen sowohl beim modernen Menschen als auch beim Neandertaler vor und hat sich offenbar schon früh in der Homo-Evolution speziell an den Verzehr von Stärke angepasst. Dies deutet darauf hin, dass stärkehaltige Nahrungsmittel in der menschlichen Ernährung lange vor der Einführung des Ackerbaus und sogar noch vor der Evolution des modernen Menschen wichtig wurden. Stärkehaltige Nahrungsmittel, wie Wurzeln, Knollen und Samen, sind reichhaltige Energiequellen, und frühere Studien haben argumentiert, dass der Übergang zum Verzehr stärkehaltiger Nahrungsmittel unseren Vorfahren geholfen haben könnte, die großen Gehirne zu entwickeln, die unsere Spezies charakterisieren.

„Zu rekonstruieren, was bei unseren ältesten Vorfahren auf dem Speiseplan stand, ist eine schwierige Herausforderung. Aber unsere Mundbakterien können wichtige Hinweise für das Verständnis der frühen Ernährungsumstellungen liefern, die uns einzigartig menschlich gemacht haben“, sagt Christina Warinner. Sie ist die leitende Senior-Autorin der Studie und Professorin mit gemeinsamen Berufungen in Anthropologie und Mikrobiom-Wissenschaften an der Harvard University und am MPI-SHH. „Bakterielle Genome entwickeln sich viel schneller als das menschliche Genom. Das macht unser Mikrobiom zu einem besonders empfindlichen Indikator für wichtige Ereignisse in unserer fernen und jüngsten evolutionären Vergangenheit.“

Das ist ein wichtiger Denkanstoß – die bescheidenen bakteriellen Beläge, die auf unseren Zähnen wachsen und die wir jeden Tag sorgfältig wegputzen, enthalten bemerkenswerte Hinweise nicht nur auf unsere Gesundheit, sondern auch auf unsere Evolution.

Nach Pressemeldung des MAX PLANCK INSTITUTs FÜR DIE WISSENSCHAFT DER MENSCHHEITSGESCHICHTE.

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