Schwierige Geburt und kognitive Fähigkeiten

Beim Menschen ist die Geburt schwieriger und schmerzhafter als bei Menschenaffen. Lange nahm man an, dass dies auf das grosse Gehirn und die engen Verhältnisse im mütterlichen Becken zurückgeht. Mit 3D-Geburtssimulationen zeigen Forschende der Universität Zürich, dass die Geburt aber bereits bei den Vormenschen vor rund drei Millionen Jahren deutlich schwieriger war trotz ihrem noch kleinen Gehirn – mit Folgen für ihre kognitive Entwicklung.

    Geburtssimulation von Lucy (Australopithecus afarensis) mit drei unterschiedlich grossen Fetuskopfgrössen. Nur eine Gehirngrösse von maximal 30 Prozent der Erwachsenengrösse (rechts) passt durch den Geburtskanal.
Geburtssimulation von Lucy (Australopithecus afarensis) mit drei unterschiedlich grossen Fetuskopfgrössen. Nur eine Gehirngrösse von maximal 30 Prozent der Erwachsenengrösse (rechts) passt durch den Geburtskanal. (Bild: Martin Häusler, UZH)

Um den engen Geburtskanals zu passieren, muss der menschliche Fetus komplexe Drehbewegungen und Biegungen durchführen. Verbunden ist dies mit einem hohen Risiko für Geburtskomplikationen bis hin zu einem Geburtsstillstand und dem Tod von Mutter und Kind. Die gängige Erklärung für diese Geburtsschwierigkeiten ist, sie seien die Folge eines Konflikts zwischen den Anpassungen an einen effizienten aufrechten Gang sowie an unser grosses Gehirn.

Dilemma zwischen aufrechtem Gang und grösserem Gehirn

Der aufrechte Gang entstand vor etwa sieben Millionen Jahren und führte zu einer tiefgreifenden Umgestaltung des Beckens mit einem verkürzten Abstand zwischen Hüftgelenk und Kreuzbein. Die enorme Zunahme der Hirngrösse erfolgte jedoch erst ab zwei Millionen Jahren, als die frühesten Vertreter der Gattung Homo auftauchten. Das Dilemma, das durch die beiden gegensätzlichen Selektionsdrücke entstand, löste die Evolution durch die Geburt von neurologisch unterentwickelten, hilflosen Neugeborenen mit einer relativ kleinen Gehirngrösse. Wir Menschen werden deshalb auch als sekundäre «Nesthocker» bezeichnet.

Die Forschungsgruppe von Martin Häusler vom Institut für Evolutionäre Medizin der Universität Zürich (UZH) und das Team von Pierre Frémondière von der Université Aix-Marseille zeigen nun, dass verglichen mit den Menschenaffen die Geburt bereits bei den Australopithecinen vor zwei bis vier Millionen Jahren schwierig war. «Vormenschen wie Lucy sind ideal, um die Effekte der unterschiedlichen evolutiven Kräfte zu untersuchen: Sie besassen noch ein relativ kleines, affenähnliches Gehirn, ihr Becken wies aber bereits deutliche Anpassungen an den aufrechten Gang auf», sagt Häusler.

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Verhältnis von Fetus- und Erwachsenenkopfgrösse typisch für jede Art

Gelungen ist den Forschenden der Nachweis mit Hilfe von dreidimensionalen Computer-Simulationen. Da keine Fossilien von neugeboren Australopithecinen erhalten sind, simulierten sie die Geburt mit verschiedenen Fetuskopfgrössen, um die gesamte mögliche Variationsbreite abzudecken. Für jede Art steht die Gehirngrösse der Neugeborenen in einem typischen Verhältnis zur Gehirngrösse der Erwachsenen: Basierend auf dem Verhältnis von nichtmenschlichen Primaten und der Hirngrösse eines durchschnittlichen erwachsenen Australopithecus berechneten die Forschenden die mittlere Gehirngrösse der Neugeborenen auf 180 g. Gemäss dem menschlichen Verhältnis entspräche dies einer Grösse von 110 g.

Für die 3D-Geburtssimulationen berücksichtigten die Forschenden die durch die Schwangerschaft erhöhte Beweglichkeit der Beckengelenke und ermittelten eine realistische Dicke der Weichteile.

Das Resultat: Eine problemlose Passage ist nur bei einem Fetuskopf von 110 g Grösse, nicht aber bei 180 g oder einer Zwischengrösse von 145 g. «Das bedeutet, dass die Australopithecus-Babys bei der Geburt ähnlich neurologisch unterentwickelt und auf Hilfe angewiesen waren wie die Menschenbabys heutzutage», sagt Häusler.

Längeres Lernen befeuerte kognitive und kulturelle Entwicklung

Aus diesem Grund praktizierten wahrscheinlich bereits die Australopithecinen eine Form der gemeinsamen Aufzucht des Nachwuchses. Verglichen mit Menschaffen konnte das kindliche Gehirn länger ausserhalb der Gebärmutter wachsen und die Neugeborenen so länger von anderen Gruppenmitgliedern lernen. «Diese ausgedehntere Lernphase wird gemeinhin als entscheidender Faktor für die kognitive und kulturelle Entwicklung des Menschen angesehen», sagt Häusler. Auch archäologische Funde untermauern die Theorie: Die ältesten, auf 3,3 Millionen Jahre datierten Steinwerkzeuge stammen aus einer Zeit, als es nur Australopithecinen und noch keine Vertreter der Gattung Homo gab.

Nach einer Pressemitteilung der Universität Zürich.

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