Frühe Steinwerkzeuge waren keine Raketenwissenschaft

Menschen stellen einfache Werkzeuge spontan her: Tübinger Experiment hinterfragt Annahme, dass Steinwerkzeuge vor 2,6 Millionen Jahren den Beginn der menschlichen Kultur darstellen

Ein Studienteilnehmer, ohne Vorkenntnisse zu Steinwerkzeugen und deren Herstellungstechniken, verwendet die so genannte bipolare Technik. Das resultierende Werkzeug ist unten rechts zu sehen (Bildnachweis:William D. Snyder from Snyder et al. 2022).

Steinwerkzeuge aus archäologischen Ausgrabungen ‒ einige bis zu 2,6 Millionen Jahre alt – gelten Vielen als Beleg für den Beginn der menschlichen Kultur in der Evolution. Aber zeigen sie tatsächlich, dass unsere Vorfahren bereits zu diesem Zeitpunkt geistig und kulturell zu Menschen wurden? Diese herkömmliche Interpretation haben Dr. Claudio Tennie und William Snyder aus der Urgeschichte und Quartärökologie der Universität Tübingen in einem vom Europäischen Forschungsrat (ERC) finanzierten Forschungsprojekt überprüft. Sie kommen zu einem anderen Schluss: Wie ein Experiment zeigte, können die frühesten Techniken zur Herstellung von Steinwerkzeugen auch ohne kulturelle Weitergabe spontan neu erfunden werden. Sie seien also kein Beweis für den Beginn der menschlichen Kultur, die möglicherweise erst viel später begonnen habe, urteilen die Forscher. Die Studie wurde im Fachmagazin Science Advances veröffentlicht. 

Von Grund auf neu hergestellte Werkzeuge

Das Team um Dr. Claudio Tennie und William Snyder hatte eine experimentelle Studie mit 28 Erwachsenen ohne archäologische Vorbildung durchgeführt. Die Teilnehmenden wurden gebeten, eine Kiste zu öffnen, die eine finanzielle Belohnung enthielt. Sie konnten dafür zur Verfügung gestellte Rohstoffe – eine bemalte Glashalbkugel, einen mittelgroßen Flusskiesel und einen großen Granitblock – auf jede ihnen geeignet erscheinende Weise verwenden, um im Anschluss ein Seil zu zertrennen, das die Kiste verschlossen hielt. 

Die Teilnehmenden erhielten vorab keine Informationen zur Herstellung oder Verwendung von Steinwerkzeugen, und 25 von ihnen gaben im Anschluss an die Studie an, keinerlei Vorkenntnisse zur Herstellung von Steinwerkzeugen zu haben. Trotzdem erfand eine deutliche Mehrheit spontan mindestens eine dieser Techniken und nutzte die hergestellten Werkzeuge, um das Seil zu zerschneiden. Laut Autoren wurden sogar ohne Ausnahme alle bisher beschriebenen Herstellungstechniken früher Steinwerkzeuge von unerfahrenen Probandinnen und Probanden von Grund auf neu erfunden.  

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„Diese Daten widerlegen die frühere Annahme, dass die Herstellung von Steinwerkzeugen schwierig sein muss oder gar unmöglich, wenn es keine Vorbilder gibt, die man kopieren kann“, sagt Studienleiter Claudio Tennie. Wären die frühesten Steinwerkzeuge der menschlichen Geschichte tatsächlich der erste Ausdruck menschlicher Kultur, wie bislang meist angenommen, dann hätten sie im Experiment nicht Gegenstand spontaner Innovation sein können, so Tennie. Es wäre dann schlicht nicht möglich, dass sie ‚aus dem Nichts‘ neu entstehen, ohne dass die ihnen zugrundeliegenden Techniken kulturell weitergegeben wurden.

Rund 2,6 Millionen Jahre (A) und 1,7 Millionen Jahre alte Steinwerkzeuge und ein Ergebnisbeispiel aus dem aktuellen Experiment mit Probanden ohne Vorkenntnisse (Artefakt C; Bildnachweis: William D. Snyder).

„Diese Ergebnis überraschte andere Forscher, die wir vor Veröffentlichung unserer Ergebnisse befragten“, sagt Tennie. „Sie waren der Überzeugung, dass die Herstellung von Steinwerkzeugen immer das Kopieren ihrer Herstellungstechniken voraussetzt. Das ist aber nicht der Fall.“ 

„Dass es vor 2,6 Millionen Jahren Steinwerkzeuge gab, ist kein zuverlässiger Beweis mehr dafür, dass unsere Vorfahren in der frühesten Steinzeit eine Kultur wie die unsere hatten“, resümiert William Snyder. „Wir müssen jetzt viel spätere Zeiträume für die Entstehung der menschlichen Kultur betrachten.“ 

Publikation: 

William D. Snyder, Jonathan S. Reeves & Claudio Tennie: Early knapping techniques do not necessitate cultural transmission. Science Advanceshttps://doi.org/10.1126/sciadv.abo2894 

Nach einer Pressemitteilung der Universität Tübingen.

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