Freilegen frühneuzeitlicher Gräber auf dem Unser Lieben Frauen Kirchhof. ­

Respekt vor den Toten – Denkanstoß für Archäologen

Immer wieder sehen sich Ausgräber mit menschlichen Gebeinen ­­konfrontiert. Dieser Artikel soll als Denkanstoß dienen, wie mit den Knochen von Toten aus archäologischen Kontexten angemessen und würdig umgegangen werden kann.

Von Dieter Bischop, Claudia Maria Melisch, Andreas Quade und Swantje Krause; Titelbild: Freilegen frühneuzeitlicher Gräber auf dem Unser Lieben Frauen Kirchhof. ­Foto: D. Bischop.

Die Neugestaltung im Umfeld der Bremer Stephanikirche in den Jahren 2020/21 stellte eine besondere Herausforderung dar. Der Einbau einer Treppenanlage machte archäologische Ausgrabungen eines Teiles des Kirchhofs notwendig (AiD 6/2021, S. 54). 44 ungestörte Bestattungen wurden geborgen, weitere Gräber konnten an Ort und Stelle verbleiben. Ein großer Teil des über 800 Jahre alten Kirchhofs erwies sich jedoch als alt gestört. Bomben des Zweiten Weltkriegs hatten das mittelalterliche Gotteshaus empfindlich getroffen. Tiefe Bombenkrater im Kirchhof waren mit Schutt und den aus der Erde gerissenen Skelettresten verfüllt. Der Boden aus diesen Verfüllungen wurde zum Teil auf einen Schüttplatz abgefahren. Dort stellte sich jedoch heraus, dass im Erdreich noch große Mengen menschlicher Knochen lagen.

Eine Anfrage, bei der Bergung der Menschenknochen auf der Deponie zu helfen, ging an die Evangelische Studierenden Gemeinde. Im Oktober 2020 sammelte eine internationale multireligiöse Gruppe aus Studierenden und Ehrenamtlichen dort einige Tausend menschlicher Knochen unter fachlicher Anleitung der Autoren. Neben den ungestörten Bestattungen wurden auf dem Stephanikirchhof die Gebeine von etwa 550 weiteren Individuen geborgen, wie die nachfolgende Erhebung der anthropologischen Basisdaten ergab.
Die Bergung der Gebeine war besonders für die jungen Studierenden eine Selbstverständlichkeit und eine emotionale Herausforderung zugleich. Ihre Ansprachen bei der späteren Wiederbestattung der Gebeine am 1. Juli 2021 zeigten, dass sie sich, unabhängig, ob sie christlichen oder muslimischen Glaubens oder Agnostiker waren, ganz existenzielle Fragen bei der Bergung gestellt hatten. Durch das Aufsammeln der Knochen fühlten sie sich den vor einigen Jahrhunderten Verstorbenen nahe und verknüpften das Erlebte mit persönlichen Erinnerungen.

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Grüfte, Gräber und Gebeine – Tod in der Frühen Neuzeit

Im Mittelpunkt stehen die interdisziplinären Forschungen zur »Geschichte des Todes« in der Frühen Neuzeit, also dem Zeitabschnitt von etwa 1500 bis 1800. In dieser Epoche, die zwischen Mittelalter und Moderne steht, erlebte Europa einige tiefgreifende Veränderungen in Gesellschaft, Politik und Kultur. Verschiedene Faktoren haben auch zu einem Wandlungsprozess im Bestattungsbrauchtum geführt. Besonders unter dem Einfluss der Reformation wurde die Verlegung der Friedhöfe vor die Stadtmauern gefördert, weil die Ablehnung der Reliquienverehrung und der Fürbitte für die Toten dem Friedhof eine andere Bestimmung zugewiesen hatte. Auch kollidierte das bis dahin übliche Treiben auf dem Kirchhof mit Festen und Versammlungen mit den Vorstellungen Luthers von einem Gottesacker als Ort der Ruhe für die Toten und der Besinnung für die Lebenden. Zugleich sehen wir neue Bestattungsformen.

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»Behandle andere Menschen genauso, wie ihr selbst behandelt werden wollt«

Die Studierenden wurden von Pastor Dr. Andreas Quade betreut, der dazu aus christlich-protestantischer Perpektive schreibt: Bei der Bestattung erinnern wir uns an die Toten, aber es geht um die Lebenden, damit sie Trost finden und hoffnungsvoll weiterleben können. Die Lebenden kümmern sich um ihre Toten. Sie gehen zum Grab, um einen Ort für ihre Erinnerungen zu haben. Was ist aber, wenn es die mit den Toten Verbundenen nicht mehr gibt? Was ist, wenn die Toten schon viele Hundert Jahre tot sind, sodass keine lebendige Erinnerung mehr an sie existiert? Diese Situation ist gegeben, wenn menschliche Überreste, durch welche Umstände auch immer, zum Vorschein kommen. Aus protestantischer Sicht handelt es sich bei der Beerdigung nicht um etwas Sakramentales, sondern um eine gottesdienstliche Handlung. Das Thema Wiederbestattung kommt in Beerdigungs-Agenden nicht vor. Ebenso finden sich in der Fachliteratur keine systematisch-theologischen Erörterungen zur Wiederbestattung. Als Vorbild für die Sorge um die Körper der Toten, auch jenen, die einem nicht verwandtschaftlich oder anderweitig nahestehen, mag Josef von Arimathäa dienen, der veranlasste, dass der Leichnam Jesu nach seinem Tod am Kreuz in einem Felsengrab bestattet wurde. Ebenso die Frauen, die früh am Morgen zum Grab kamen, um den Leichnam zu salben und denen die Auferstehung Jesu verkündigt wurde. Sie wurden nicht Zeuginnen des Todes, sondern Botschafterinnen des Lebens. Als Beitrag der Religionen zur Frage der Menschlichkeit, auch für den Umgang mit Verstorbenen, kann die Goldene Regel aus der Bergpredigt gelten, die sich ähnlich in allen Weltreligionen findet: »Behandle andere Menschen genauso, wie ihr selbst behandelt werden wollt.«

Beispiele aus der Praxis: Bremen

Immer wieder kommen in alten Städten Überreste der überfüllten mittelalterlichen Kirchhöfe ans Tageslicht, die europaweit spätestens im frühen 19. Jh. geschlossen wurden. Danach wurden neue Gräberfelder außerhalb der Stadtmauern angelegt. Der Umgang mit den bei Ausgrabungen teils massenhaft und ohne Zusammenhang geborgenen menschlichen Gebeinen stellt Archäologen, Anthropologen und Kirchenvertreter vor die Frage, wie ein langfristiger, ethisch angemessener Umgang mit diesen Überresten aussehen kann. Die innerstädtischen Bremer Kirchhöfe sind heute weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Kaum einem Bremer ist bewusst, dass man an den Wurstständen vor der Liebfrauenkirche über mittelalterlichen Grablegen steht. Die Liebfrauenkirche, nach dem Dom die älteste Bremer Kirche, hat ihren Ursprung bereits in karolingischer Zeit. Da sie mehr als 300 Jahre lang einzige Pfarrkirche war, dürften in ihrem Inneren und bis 1811 auf dem umliegenden Kirchhof Zehntausende Bestattungen vorgenommen worden sein. In den letzten Jahren wurden dort Pflasterabsenkungen durch Bodenaustausch ausgeglichen. Solche Arbeiten werden regelhaft archäologisch begleitet. Die Freilegung von Gräbern stößt stets auf großes öffentliches Interesse. Dabei fallen die Reaktionen unterschiedlich aus. Vorwürfe, die Totenruhe zu stören, können zum Teil nur mühsam entkräftet werden.

Kisten mit Skelettresten von Toten.
Blick auf einige der über hundert Kisten, in denen die menschlichen Skelettreste gesammelt wurden. Foto: Claudia M. Melisch.

Für den Umgang mit historischen Gebeinen aus musealen Sammlungen gibt es ethische Richtlinien in der so genannten Unrechtskontext-Diskussion, die auch auf die Persönlichkeitsrechte der Toten Bezug nehmen. Im archäologischen Alltag hingegen, wo jährlich Tausende von ­mittel­alterlichen und frühneuzeitlichen Bestattungen geborgen werden, fehlen bislang ethische Orientierungen vonseiten der Landesdenkmalämter. Auch wenn den Ausgräbern bewusst ist, dass es sich bei menschlichen Knochen um ein besonderes Fundmaterial handelt und sie sich um einen angemessenen Umgang mit den Gebeinen bemühen, würde mancher gerne auf entsprechende Richtlinien zurückgreifen können, durchaus auch im Licht der verschiedenen religiösen Kontexte. Bei Ausgrabungen in Deutschland sind wir meistens mit katholischen oder mit protestantischen Gräberfeldern konfrontiert; multireligiöse Kirchhöfe werden aufgrund ihres jungen Alters bisher noch nicht ausgegraben. Dass jüdische oder muslimische Gräber nicht ausgegraben werden sollen, ist bekannt. Um aber zeitgemäß und ethisch handeln zu können, brauchen die Archäologen dringend Grundregeln, die zum Beispiel auch die Frage diskutieren, ob eine Wiederbestattung sinnvoll ist. In Großbritannien ist eine Wiederbestattung von frühneuzeitlichen Skeletten innerhalb einer bestimmten Zeit obligatorisch, sofern nicht eine Aufbewahrung im Museum beim Justizministerium beantragt wird.

In Deutschland werden Archäologen oft von kirchlicher Seite mit dem Wunsch nach Wiederbestattung konfrontiert. Manche Kirchengemeinden fordern, dass die osteologischen Untersuchungen der Gebeine vor Ort stattfinden müssen. Andere sind gar nicht an einer Wiederbeisetzung bzw. überhaupt am Verbleib der Knochen interessiert. Ohne offizielle Richtlinien für den Umgang mit menschlichen Gebeinen bleibt deren Handhabung und auch die Frage nach der Wiederbestattung eine individuelle Entscheidung, die abhängig von den Kapazitäten, finanziellen und personellen Möglichkeiten der Landesdenkmalämter und der Kirchengemeinden ist.

Das Magazin als Friedhof

Menschliche Gebeine stellen eine bedeutende historische Quelle dar, weil sich neben den individuellen biologischen Daten wie z. B. dem Geschlecht und dem Lebensalter zum Zeitpunkt des Todes auch Einblicke in den Gesundheitszustand, die Lebensumstände und Verhältnisse längst vergangener Bevölkerungen gewinnen lassen. Nach einer archäologischen Ausgrabung und der wissenschaftlichen Auswertung werden Fundgegenstände wie Tongefäße, Schmuck oder Münzen magaziniert oder museal ausgestellt, während über den Verbleib menschlicher Knochen kontrovers diskutiert wird. Für eine Aufbewahrung Letzterer sprechen neben der wissenschaftlichen Weiterentwicklung und potenziellen Verbesserung der Untersuchungsmethoden auch die Möglichkeit, erhobene Daten und daraus gewonnene Erkenntnisse zu überprüfen und gegebenenfalls neue Forschungsfragen zu formulieren. Mit einer Wiederbestattung gehen daher einzigartige Informationsquellen für zukünftige Forschergenerationen und im weiteren Sinne unserer Gesellschaft verloren. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Langzeitlagerung in einer entsprechend kontrollierten Umgebung sinnvoll. Unter Berücksichtigung christlich-religiöser Glaubensvorstellung können nach Herrmann et al. 1990 Magazine oder andere sachgerechte Lagerstätten Friedhofscharakter erlangen, in dem die Sammlungen kirchenrechtlich wirksam eingesegnet oder geweiht werden. Dieses Vorgehen unterstützt zudem den respekt- und würdevollen Umgang mit den Verstorbenen.

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Das wissenschaftliche Interesse an mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bestattungen hat in Bremen eine mehr als 160 Jahre alte Tradition. Bereits 1860 wurden annähernd 400 früh- und hochmittelalterliche Gräber bei den Schachtungsarbeiten für den Neubau der Börse unter der Wilhadikapelle am Markt aufgedeckt. Einige der damals geborgenen Schädel mit teils verheilten Hieb- und Schlagverletzungen wurden von dem berühmten Arzt Rudolf Virchow (1821–1902) an der Berliner Charité untersucht. Für seine Untersuchungen wurden Gipsabgüsse hergestellt. Die Originale befinden sich im Überseemuseum Bremen, das 1896 als »Städtisches Museum für Natur-, Völker- und Handelskunde« gegründet wurde. Auch das Überseemuseum beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit der Herkunftsgeschichte von Objekten, die aus ehemaligen Kolonien stammen. Es besitzt Überreste von etwa 40 Menschen aus Südamerika, Asien, Ozeanien und Afrika. Deren Rückgabe wird erwogen und unterstützt. Eine Übergabe der städtischen Bremer Skelette an die jeweiligen Kirchengemeinden ist hingegen kein Thema, zumal die Wilhadikapelle im Zuge der Reformation 1527 geschlossen und säkularisiert wurde. Die Ausstellung der frühneuzeitlichen Mumien aus dem Bremer Bleikeller, die seit etwa 1708 bis heute als geheimnisvolle Sehenswürdigkeit mit Memento-Mori-Effekt präsentiert werden, mag für manche Besucher wenig geschmackvoll erscheinen. Interessanterweise ging man mit einer offenbar gut erhaltenen Moorleiche, die 1868 in der Nähe des heutigen Bremerhaven-Lehe gefunden wurde, anders um. Sie wurde unmittelbar nach Auffindung auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt. Aus heutiger Sicht ein wissenschaftlicher Frevel, da die zugehörigen Beifunde – wie das Schuhwerk und ­eine Tasche – verschwanden und so der Forschung für immer entzogen sind. Archäologisch kaum bedenklich ist hingegen die 2007 erfolgte erneute Beisetzung einiger der bei Unser Lieben Frauen geborgenen frühneuzeitlichen Skelettreste im bestehenden Beinkeller der Kirche, da es sich um stark fragmentierte unvollständige Skelettreste mit deutlich begrenztem Aussagewert handelte. Auch bei der eingangs genannten Stephanikirche im Westen der heutigen Altstadt wurden bereits verschiedene Bestattungsreste nach ihrer anthropologischen Untersuchung im Rahmen einer kleinen Andacht beigesetzt. Sie waren zuvor unter anderem bei Kanalbauarbeiten archäologisch geborgen worden.

Skelettfunde können viel über die Zusammensetzung vergangener Gesellschaften und z. T. den Stand ihrer medizinischen Versorgung aussagen. Mit ihnen auch langfristig respekt- und würdevoll umzugehen, muss selbstverständlich sein. Aus dieser Wissensquelle ethisch zeitgemäß mittels anthropologischer, archäometrischer und genetischer Untersuchungen vor einer etwaigen endgültigen Wiederbestattung zu schöpfen, sollte Standard werden. Die Anthropologie kann oft bereits nach einer ersten Sichtung des Knochenmaterials abschätzen, welches Potenzial bezüglich der Aussagekraft besteht und welche weiteren Untersuchungen möglich bzw. sinnvoll wären.
Erfahrungen zeigen, dass die Entwicklung neuer Methoden zu enormen Erkenntnissen führen kann, wie die 1856 im berühmten Neandertal entdeckten Skelett­reste zeigen, die zu Beginn als Überreste eines berittenen Kosaken gedeutet wurden. Was wäre gewesen, wenn man diese Knochen unmittelbar nach dieser Einschätzung wieder bestattet hätte? Ein Leitfaden für den Umgang mit Gebeinfunden aus archäologischen Befunden könnte hier eine zeitgemäße und willkommene Orientierungshilfe bieten.

Zum Weiterlesen

G. Grupe, M. Harbeck, G. McGlynn, Prähistorische Anthropologie (Berlin/Heidelberg 2015).

Toten

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