Mit Fäkal-Lipiden das Bevölkerungswachstum im Ostseeraum rekonstruieren

Was Flüsse in die Ostsee tragen, landet meist in einem ihrer tiefen Becken. Jahr für Jahr entstehen so Sedimente, die sich über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg übereinanderstapeln. Geolog:innen finden in diesen Ablagerungen so genannte Proxies – Zeugen, mit denen sie frühere Umweltbedingungen rekonstruieren. In einer im Januar erschienenen Abhandlung in der Fachzeitschrift „Environmental Research“ zeigen Jérôme Kaiser vom Leibniz-Institut für Ostseeforschung und Mathias Lerch vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung, dass sich auf diesem Wege auch die Bevölkerungsentwicklung und die Abwasser-Geschichte im Ostseeraum rekonstruieren lassen– mit Hilfe der Überreste von Fäkalien!

Um es gleich vorweg zu schicken: Nein, die Ostsee ist keine Kloake. Sehr viele Klärwerke entlang ihrer Küste sorgen für eine Reinigung der Abwässer und was die Flüsse dann noch in sie hineintragen, wird stark verdünnt. Dennoch lassen sich in den Ablagerungen am Boden der Ostsee Moleküle in extrem geringen Konzentrationen nachweisen, die eindeutig Bestandteile von Fäkalien waren. Für Geowissenschaftler wie Jérôme Kaiser sind diese „anrüchigen“ Moleküle wertvoll wie Goldstaub. Als Zeugen im Archiv der Ostsee geben sie Auskunft über das Bevölkerungswachstum und die Entwicklung der Abwasserverschmutzung der Ostsee in den letzten Jahrhunderten.

Sascha Plewe und Helge Arz vom Institut für Ostseeforschung Warnemünde bereiten einen Multicorer für die Entnahme von kurzen Sedimentkernen vor.
Sascha Plewe und Helge Arz vom Institut für Ostseeforschung Warnemünde bereiten einen Multicorer für die Entnahme von kurzen Sedimentkernen vor, mit denen sich Bevölkerungsentwicklungen im Ostseeraum rekonstruieren lassen. Foto: Jerome Kaiser, IOW.

„Wir bestimmen in den Sedimenten Lipide, die für menschliche Fäkalien, aber auch für Exkremente von landwirtschaftlichen Nutztieren charakteristisch sind“, erläutert Jérôme Kaiser, Leiter des Biomarker-Labors am IOW. In einer groß angelegten Studie untersuchte er die Sedimente einiger wichtiger Ostsee-Zuflüsse sowie die Oberflächensedimente in unterschiedlichen Becken der Ostsee auf ihren Fäkal-Lipid-Gehalt hin. „Die Gehalte an Fäkal-Lipiden in den Sedimenten der Flüsse unterscheiden sich sehr stark. Flüsse, in deren Einzugsgebiet Großstädte liegen oder intensive Nutztierhaltung betrieben wird, zeigen die höchsten Werte.“ Diese Muster fand Kaiser auch in den Oberflächensedimenten der Ostsee: In der Nähe der Mündungen belasteter Flüsse oder dort, wo regelmäßige Strömungen deren Wasser hinleiten, fanden sich die höchsten Werte. Er ist überzeugt: „Diese Methode hat das Potenzial als Indikator für Überdüngung zu dienen“.

Neben der Identifizierung räumlicher Unterschiede gelang es den Autoren auch, zeitliche Unterschiede herauszuarbeiten: Aus dem nördlichen Gotland-Becken (Zentrale Ostsee) lag Probenmaterial eines Sedimentkernes vor. Eine Altersdatierung ordnete die Ablagerungen auf eine Zeitspanne von 1867 bis 2015 ein. In dieser Zeit stieg der Anteil an Fäkalien kontinuierlich an, wobei immer eine Mischung aus menschlichen und Nutztier-Fäkalien vorlag. Die höchsten Anteile an menschlichen Fäkalien traten in den 1950er, den späten 1980er und den 2010er Jahren auf.

Um festzustellen, ob eine Verbindung zwischen den erfassten Lipid-Gehalten und dem Bevölkerungswachstum besteht, wurden die Werte mit demografischen Daten aus dem Ostseeraum verglichen. Dabei zeigten sich Parallelen zur Bevölkerungsentwicklung im südöstlichen Ostseeraum. Besonders deutlich waren die Ähnlichkeiten mit der Entwicklung im Raum St. Petersburg. Für Jérôme Kaiser ergeben sich daraus interessante Möglichkeiten, in noch frühere Zeiten zu schauen. „Wir wissen, dass diese Moleküle recht lange im Sediment stabil bleiben. Wir können sie nutzen, zum Beispiel um mehr Informationen über das Bevölkerungswachstum zur Zeit der Mittelalterlichen Wärmeperiode zu bekommen.“ Und der Demograf Mathias Lerch ergänzt: „Die Fäkal-Lipide ergänzen den Werkzeugkasten, den wir zur Rekonstruktion vergangener Umweltbedingungen zur Verfügung haben, um den Aspekt der Bevölkerungsdynamik. Das erlaubt uns spannende Einblicke in mögliche Wechselwirkungen zwischen Bevölkerung und Umwelt.“

Nach Pressemitteilung des Instituts für Ostseeforschung Warnemünde

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