Fadenwurm aus der Eiszeit

Neu entdeckte Fadenwurmart aus dem Pleistozän besitzt ähnlichen molekularen Baukasten zum Überleben wie der Fadenwurm Caenorhabditis elegans

Der Fadenwurm aus dem Permafrost gehört infolge der Analysen zu einer bisher unbekannten Art, Panagrolaimus kolymaensis.
Der Fadenwurm aus dem Permafrost gehört infolge der Analysen zu einer bisher unbekannten Art, Panagrolaimus kolymaensis. © Institute of Physicochemical and Biological Problems in Soil Science RAS/ Alexei V. Tchesunov und Anastasia Shatilovich

Einige Organismen wie Bärtierchen, Rädertierchen und Fadenwürmer können extreme Umweltbedingungen überleben, indem sie sich in einen Ruhezustand versetzen, der als „Kryptobiose“ bezeichnet wird. Im Jahr 2018 entdeckten Forschende des Instituts für physikalisch-chemische und biologische Probleme der Bodenkunde RAS in Russland zwei Fadenwurmarten im sibirischen Permafrost. Radiokarbondatierungen ergaben, dass die beiden Nematoden seit dem späten Pleistozän vor etwa 46.000 Jahren in Kryptobiose lebten. Forschende des Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden, des Zentrums für Systembiologie Dresden und des Instituts für Zoologie der Universität zu Köln haben das Genom des Fadenwurmes analysiert und herausgefunden, dass der Permafrost-Fadenwurm zu einer bisher unbekannten Art, Panagrolaimus kolymaensis, gehört. Sie zeigten, dass Panagrolaimus kolymaensis ähnliche Mechanismen wie Caenorhabditis elegans – ein in der wissenschaft häufig benutzter Modellorganismus – einsetzt, um Austrocknung und Gefrieren unter Laborbedingungen zu überleben.

Als Anastasia Shatilovich vom Institut für physikalisch-chemische und biologische Probleme der Bodenkunde der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAS) zwei eingefrorene Fadenwürmer aus einer versteinerten Höhle in den Schlammablagerungen des sibirischen Permafrosts wiederbelebte, waren sie und ihr Team völlig begeistert. Nachdem sie die Würmer im Labor aufgetaut hatten, ergab eine Radiokarbonanalyse des Pflanzenmaterials aus der Höhle, dass diese gefrorenen Ablagerungen, die 40 Meter unter der Oberfläche lagen, seit dem späten Pleistozän vor 45.839 bis 47.769 Jahren nicht mehr getaut waren.

Zur gleichen Zeit beschäftigte sich die Forschungsgruppe von Teymuras Kurzchalia am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (Teymuras Kurzchalia ist mittlerweile im Ruhestand) bereits mit der Frage, wie Larvenstadien des Fadenwurms Caenorhabditis elegans extreme Bedingungen überleben können. Als das Team von den Permafrost-Nematoden hörte, bemühten sich die Forschenden sofort um eine Zusammenarbeit mit Anastasia Shatilovich. Vamshidhar Gade, damals Doktorand in der Forschungsgruppe von Teymuras Kurzchalia, begann mit den Permafrost-Nematoden zu arbeiten. „Welche molekularen und metabolischen Wege diese kryptobiotischen Organismen nutzen und wie lange sie in der Lage wären, ihr Leben einzustellen, ist nicht vollständig geklärt“, erklärt er. Vamshidhar arbeitet inzwischen an der ETH Zürich in der Schweiz.

Die Dresdner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erstellten eine hochwertige und komplette Genomsequenz und -analyse eines der Permafrost-Nematoden in Zusammenarbeit mit Eugene Myers, dem emeritierten Direktor und Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik, dem DRESDEN-concept Genome Center, und der Forschungsgruppe von Michael Hiller, dem damaligen Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut und heutigen Professor für Vergleichende Genomik an der LOEWE-TBG und der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung.

Neue Fadenwurm-Art

Trotz vorhandener charakteristischer DNA-Sequenzen und mikroskopischer Bilder war es schwierig zu bestimmen, ob es sich bei dem Permafrostwurm um eine neue Art handelt oder nicht. Philipp Schiffer, Forschungsgruppenleiter am Institut für Zoologie, Co-Leiter des im Aufbau befindlichen Biodiversity Genomics Center Cologne (BioC2) an der Universität zu Köln und Experte für Biodiversitätsgenomforschung, bestimmte gemeinsam mit den Dresdner Kolleginnen und Kollegen die Art und analysierte mit seinem Team das Genom. Mithilfe einer phylogenetischen Analyse konnten er und sein Team den Fadenwurm als eine neue Art definieren, und beschlossen, ihn „Panagrolaimus kolymaensis“ zu nennen. In Anlehnung an die Region des Kolyma-Flusses, aus der er stammt, erhielt der Fadenwurm den lateinischen Namen Kolymaensis.

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Durch einen Vergleich des Genoms von Panagrolaimus kolymaensis mit dem des Modellnematoden Caenorhabditis elegans identifizierten die Kölner Forscher Gene, die beide Arten vorkommen und an der Kryptobiose beteiligt sind. Zu ihrer Überraschung waren die meisten der Gene, die für das Eintreten der Kryptobiose bei Caenorhabditis elegans, der sogenannten Dauerlarve, notwendig sind, auch bei Panagrolaimus kolymaensis vorhanden. Als nächstes untersuchte das Forschungsteam die Überlebensfähigkeit von Panagrolaimus kolymaensis und entdeckte, dass eine leichte Dehydrierung vor dem Einfrieren den Würmern half, sich auf die Kryptobiose vorzubereiten, und die Überlebensrate nach Einfrieren bei -80 Grad Celsius erhöhte.  Beide Arten produzierten einen Zucker namens Trehalose, wenn sie im Labor leicht dehydriert wurden, was sie möglicherweise in die Lage versetzte, das Einfrieren und die starke Dehydrierung zu überstehen. Auch die Larven von Caenorhabditis elegans profitierten von dieser Methode: Sie überlebten 480 Tage bei -80 Grad Celsius, ohne dass ihre Lebensfähigkeit oder Fortpflanzung nach dem Auftauen beeinträchtigt wurde.

Vamshidhar Gade und Temo Kurzhchalia sagen: „Unsere experimentellen Ergebnisse zeigen auch, dass Caenorhabditis elegans über längere Zeiträume in einem Schwebezustand überlebensfähig bleiben kann als bisher angenommen. Unsere Forschung zeigt, dass Fadenwürmer Mechanismen entwickelt haben, die es ihnen ermöglichen, ihr Leben über geologische Zeiträume hinweg zu erhalten.“

„Unsere Ergebnisse sind wichtig, um evolutionäre Prozesse zu verstehen, weil die Generationszeiten von Tagen bis zu Jahrtausenden reichen können und das langfristige Überleben von Individuen einer Art zum Wiederauftauchen von Abstammungslinien führen kann, die sonst ausgestorben wären“, fasst Philipp Schiffer zusammen, einer der Autoren, der die Studie leitete. Eugene Myers fügt hinzu: „Das komplette und qualitativ hochwertige Genom von P. kolymaensis wird es möglich machen, diese Eigenschaft mit denen anderer Panagrolaimus-Arten zu vergleichen, deren Genome derzeit von Schiffers Team sowie Kolleginnen und Kollegen sequenziert werden.“ Philipp Schiffer ist überzeugt: „Die Untersuchung der Anpassung von Arten an solch extreme Umgebungen durch die Analyse ihrer Genome wird es uns ermöglichen, angesichts der globalen Erwärmung bessere Erhaltungsstrategien zu entwickeln.“ Teymuras Kurzchalia sagt: „Diese Studie erweitert die längste berichtete Kryptobiose bei Fadenwürmern um Zehntausende von Jahren.“

Pressemitteilung des Instituts für Zoologie an der Universität zu Köln der Max-Planck-Gesellschaft

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