Nicht nur der anatomisch moderne Mensch war kunstfertig: Durchbohrte Muscheln aus der Neandertaler-Fundstelle Cueva de los Aviones (Cartagena, Spanien); an der Innenseite des rechten Exemplars wurden Reste roter Farbe nachgewiesen.

Waren Neandertaler und anatomisch moderne Menschen Konkurrenten?

Von Thorsten Uthmeier und Gerd-Christian Weniger; Titelbild: Durchbohrte Muscheln aus der Neandertaler-Fundstelle Cueva de los Aviones (Cartagena, Spanien); an der Innenseite des rechten Exemplars wurden Reste roter Farbe nachgewiesen. Foto: João Zilhão

Jüngste Forschungen sprechen gegen ein physisches Nebeneinander des Neandertalers und des anatomisch modernen Menschen im ­südwest­lichen Europa. Das führt zu der Frage: Wie standen sich die beiden Formen gegenüber?

Neue Funde auf der Iberischen Halbinsel belegen Verhaltensweisen von Neandertalern, die bisher als Merkmale sogenannten modernen Verhaltens vor allem dem modernen Menschen zugeschrieben wurden. In der Fundstelle Cueva de los Aviones in Murcia fanden sich in mittelpaläolithischen Schichten bemalte und durchbohrte Meeresmuscheln, in der Cueva Antón, 60 km im Inland, ebenfalls Muscheln von der Küste. In der Foradada-Höhle in Nordostspanien liegen Adlerklauen mit Schnittspuren vor, die als Schmuckobjekte gedeutet werden, wie sie neuerdings ähnlich von Spanien über Südfrankreich und Norditalien bis zum Neanderthal im Rheinland belegt sind. Es gelang inzwischen der Nachweis, dass Neandertaler mit roter Farbe Zeichen auf Höhlenwänden hinterlassen haben. In La Pasiega, Maltravieso und Cueva de Ardales konnte durch Datierungen von Kalksinter, der sich über den Farbresten gebildet hatte, ein Alter jenseits von 60 000 Jahren vor heute bestimmt werden, das Neandertaler als Schöpfer der Zeichen ausweist. Gehörte die Wandkunst bereits zur kulturellen Tradition der Neandertaler? In der Cueva de Ardales, die im Rahmen des SFB 806-Projekts untersucht wurde, konnte zudem gezeigt werden, dass die Neandertalerfundschichten in großer Zahl rote Farbpimente enthalten.

Farbapplikationen des Neanderthalers in de Cueva de Ardales.
Farbapplikationen des Neanderthalers in de Cueva de Ardales. Foto: Pedro Cantalejo

Konkurrenz ohne Kontakt?

Die hochauflösenden Daten der Paläogenetik skizzieren bisher Kontaktszenarien zwischen Neandertalern und anatomisch modernen Menschen in Westasien und Osteuropa, während solche Hinweise im südwestlichen Europa fehlen. So galt beispielsweise die Iberische Halbinsel viele Jahre als das letzte Refugium der Neandertaler mit ihrer besonders langen Präsenz im Vergleich zum Rest Europas. Das westliche Mittelmeergebiet war einer der regionalen Schwerpunkte des Forschungsprojekts, um auch dieser Frage nachzugehen. Können die zeitlich eng begrenzten Besiedlungsereignisse mit der viel gröberen Auflösung der radiometrischen Daten überhaupt nachverfolgt werden? Belegen die Überlappungen von Radiokarbondatierungen zwischen Fundschichten von Neandertalern und von anatomisch modernen Menschen tatsächlich ein physisches Nebeneinander beider Formen? Unsere Forschungen sprechen dagegen, und auch eine Betrachtung der Gesamtheit der Fundstellen zeigt für die Iberische Halbinsel, dass in der großen Mehrheit der mittelpaläolithischen Fundstellen zwischen dem Mittelpaläolithikum und dem Jungpaläolithikum eine Besiedlungslücke klafft. Dieses Muster legt ein Nacheinander und kein Nebeneinander von Neanderthalern und anatomisch modernen Menschen nahe. Ganz ähnlich scheinen die Verhältnisse auch in Süddeutschland zu liegen!

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Besiedelte der anatomisch moderne Mensch ­menschenleere Räume?

Angesichts der vielfach fundleeren Schichtpakete zwischen spätestem Mittelpaläolithikum und frühestem Aurignacien wird für die Schwäbische Alb davon ausgegangen, dass die ersten Gruppen des anatomisch modernen Menschen mit dem Aurignacien ab etwa 42 500 Jahre vor heute in eine Region kamen, in denen es bereits für mehrere Jahrtausende keine Neandertaler mehr gegeben hat. Die spannende Frage ist nun, ob ein solches Modell auch auf benachbarte Regionen in Süddeutschland übertragen werden kann.

Ein Blick auf die in Bayern gelegene Fränkische Alb offenbart jedoch deutliche Unterschiede. Aus derselben Zeit, aus der auf der Schwäbischen Alb nur geringe oder gar keine Fundniederschläge der Neandertaler vermeldet werden können, liegen hier große Fundkomplexe vor, die mit Feuerstellen und einer reichen Jagdbeute-Fauna vergesellschaftet sind. Nur wenige Kilometer auseinanderliegende Stationen wie die Sesselfelsgrotte, das Große Schulerloch, das Abri am Schulerloch, die Klausennische oder der Hohle Stein bei Schambach zeigen für Bayern exemplarisch eine phasenweise intensive Landnutzung durch die spätesten Neandertaler an. Allerdings fällt in der langen stratigrafischen Abfolge der Sesselfelsgrotte auf, dass sich im Verlauf des späten und spätesten Mittelpaläolithikums immer wieder Phasen intensiver Nutzung mit Zeiten abwechselten, in der das untere Altmühltal mit großer Wahrscheinlichkeit menschenleer war. Jürgen Richter konnte zeigen, dass in der Sesselfelsgrotte diese Unterbrechungen sogar so lang waren, dass der generationenübergreifende Informationsfluss über die Verfügbarkeit von lokalen bis regionalen Schlüsselressourcen abbrach und sich die erneut in die Region kommenden Neandertaler-Gruppen das Areal neu erschließen mussten.

Farbpigment in einer Fundschicht des Mittelpaläolithikums in der Cueva de Ardales.
Farbpigment in einer Fundschicht des Mittelpaläolithikums in der Cueva de Ardales. Foto: Pedro Cantalejo

Offene Fragen

Weil Rohmaterialverbindungen zwischen der Schwäbischen und Fränkischen Alb eindrücklich belegen, dass beide Regionen gemeinsam betrachtet werden müssen, können die Ergebnisse aus Bayern auf ganz Süddeutschland übertragen werden. Demnach kam es in ganz Süddeutschland erst vor etwas mehr als 42 000 Jahren ohne Hiatus zu einer flächendeckenden Ablösung der spätesten Neandertaler. Die Frage, ob die Alb bereits davor sporadisch durch Gruppen des anatomisch modernen Menschen besiedelt worden ist, wird zurzeit durch Feldforschungen der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg untersucht. In diesem Zusammenhang ist die Entdeckung des Bohunicien-Fundplatzes Herrnsaal bei Kelheim eine Sensation: Die Fundstelle liegt mehr als 400 km Luftlinie von dem bisher bekannten Verbreitungsschwerpunkt des Bohunicien in Mähren entfernt! Etwas jünger sind Artefakte des sogenannten Lincombien-Ranisien-Jerzmanovicien-Komplexes aus der Ruine der Kirchberghöhle bei Schmähingen im Nördlinger Ries. Folgt man aktuellen chronologischen Vorstellungen, so sind beide Fundstellen etwas älter als das Aurignacien. Es handelt sich also um die Hinterlassenschaften besonders früher, offenbar weniger erfolgreicher Ausbreitungen des anatomisch modernen Menschen nach Mitteleuropa. Besonders spannend an diesen Ausbreitungsereignissen ist die Tatsache, dass die Steinwerkzeuge auch technologische Merkmale aufweisen, die typisch für zeitgleiche Inventare des Neandertalers sind. Ganz dem genetischen Szenario vielfältiger Vermischungsereignissen entsprechend, deutet sich damit eine Beteiligung der Neandertaler an der Ausbreitung moderner Menschen nach Europa an.

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